Literatur

Das Cover dieses Buches zeigt einen Ausschnitt aus Casper David Friedrichs „Der Morgen“ und mutet somit eher an wie eine Ausgabe von Adalbert Stifters „Bergkristall“. Zwischen den Pappen tobt jedoch der (Un-)Geist des entfesselten Kapitalismus.

Ein Gedankenspiel – lesen Sie folgende Auszüge aus dem Text, was denken Sie?

„Unsere Heimat ist wieder mal auf die schiefe Bahn geraten, liebe Freundinnen und Freunde. Unsere letzten paar Regierungen haben sich der irrationalen Heilslehre der Märkte verschrieben, mit der Folge, dass unser geschwächter Staatsapparat nicht einmal mehr seine Basisfunktion der Kontrolle unserer Außengrenzen erfüllen kann.“

Hmmmmmmmmmmmm, na ja, …………………

„Um unsere Heimat für die Zukunft zu wappnen, werden wir in Deutschland nicht umhinkommen, die sinnlose Ballung unvorstellbarer Privatvermögen zu beenden. …. Als geeignete Maßnahme erscheint eine harte Vermögensobergenze, die wir auf der Höhe eines Nettobetrages von 25 Millionen Euro pro Bürger ziehen werden und oberhalb derer etwaige Vermögenswerte an das Gemeinwesen abzuführen sind!“

Oooooooooooooooooooooch, …………………… so Unrecht ist da ja nicht. Wär schon gut, würde ich endlich auch mal was abkriegen vom Reichtum im Land.

„Die Steuerpflicht auf Vermögen wird mit der deutschen Staatsbürgerschaft zu verknüpfen sein, wirksam bis 10 Jahre nach Steuerflucht oder Selbstausbürgerung; … Denn zwei Dinge sind sicher im Leben, liebe Freundinnen und Freunde: Wir alle müssen irgendwann sterben. Wir alle müssen unsere Steuern zahlen.“

Genau! Sag ich ja schon immer!

„Die illegale Einwanderung hingegen werden wir konsequent unterbinden, … Anstatt sich auf morschen Kähnen dem Tode zu weihen, werden sich Reisende … bei Deutschland bewerben können, …. Das resultierende Kontingent der Integrationsfähigen werden wir dann durch ein humanitäres abrunden, aus allein reisenden Kindern, um der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen.“

Endlich sagt’s mal einer wie es ist.

Oder? Was waren Ihre ersten Regungen und Gedanken?

Zurück zum Buch: Alexander Schimmelbusch hat einen rund 200seitigen Band vorgelegt, der es in sich hat. Die Kritik versucht sich in zahlreichen Etiketten: Roman, Romansatire, Pamphlet, Satire, Essay. Nichts passt zu 100%.

Es geht um Victor, knapp vierzig, super reich, super gelangweilt, Banker, Teilhaber einer Bank, M & A Spezialist. Heißt: Mergers & Acquisitions, was für alle Transaktionen im Unternehmensbereich steht. Das ist ausgesprochen profitabel. Und Victor unterscheidet gut, zwischen dem, was er verdient und dem, was er bekommt. Aber – wie sagt der Volksmund: Geld allein macht auch nicht glücklich. Und der Dichter: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Schimmelbusch beschreibt System und Funktionsweise dieses Wirtschaftsbereiches mit großer Detailkenntnis, er hat selbst jahrelang für Banken auf der ganzen Welt gearbeitet und kennt alle Tricks und Absahnmethoden.

Victor hat eine Tochter (Victoria, sic!), die bei der Mutter groß wird und die er völlig irrational liebt. Er fährt einen E-Porsche und Fahrrad und lässt sich regelmäßig von einer attraktiven Masseuse „zur Hand gehen“. In Berlin hat er sich ein frugales Exil geschaffen, in dem er versucht, einen Roman über „einen U-Boot-Kommandanten und eine seelisch erloschene Prostituierte“ zu schreiben, aber das alles hilft nicht gegen die Kotzbrocken, mit denen er tagsüber Geschäfte macht.

Eines Abends schreibt er in seinem Hotelzimmer in einem Anfall von stupider Langeweile und Sinnentleertheit die Skizze eines alternativen Gesellschaftsentwurfs. Der Text gerät ihm zusehends in den Duktus eines kämpferischen Manifests. Er fließt ihm aus den Fingern wie einer seiner Pitches für einen möglichen Kunden. Der Kunde dieses Pitches: die Deutschland AG und ihre Bewohner.

Ja, ja, siehe Anfang!

Aus purem Daffke schickt er den Text unter der Betreffzeile „Der hessische Landbote“ seinem Jugendfreund Ali, einem Deutsch-Türken, dessen Eltern den Döner erfunden haben und der auf einem Kreuzberger Direktmandat für die Grünen, der „deutschesten aller deutschen Parteien“, im Bundestag sitzt. Von denen hat er die Nase mal gestrichen voll und da kommt ihm Victors Suada gerade Recht. Das Programm einer neuen Partei, seiner Partei.

Was bis zu diesem Punkt zwischen Utopie und Dystopie schwankt und fein changiert, was zwischen Satire, Ironie und Zynismus, sprachlich erschreckend exakt, mäandert, wird mit einem Schlag Realität. Raus aus dem Lesesessel, in dem wir uns an den geschliffenen Dialogen und professionell gesetzten Pointen delektiert haben. Wenn’s passiert, so oder anders – es soll niemand sagen, wir hätten es nicht wissen können.

Hier gibt es einen einzigen Diskussionspunkt über den Text. Eine erfolgreiche Schriftstellerin, befragt nach Schreibtechnik, Komposition, Inspiration etc., antwortete, es ginge ihr so wie vielen Kolleginnen und Kollegen. Figuren und Atmosphäre für einen Text habe man schnell, aber: die Handlung. Die Handlung sei oft ein großes Problem.

Ob die Handlung ein „Problem“ für den Autor gewesen ist oder ob für ihn der Schwerpunkt des Textes auf etwas anderem gewesen ist. WENN der Leser eine stringente und logische Romanhandlung erwartet, dann wird er enttäuscht. Der Kern des Buches sind lange, fast essayistische Passagen, in denen Freund Ali und die Populisten der Deutschland AG das Ruder übernehmen und in der Folge an die Regierung gelangen.

„Hochdeutschland“ ist das Buch zur Stunde. Von den Marketingmaschinen der Verlage und des Buchhandels werden in diesem Segment gerade eine Reihe von Titeln hochgejazzt, die diesem weder in Inhalt noch Sprache das Wasser reichen können. Hier sind die Themen der Gegenwart aufgereiht und in der Satire bis auf die Spitze verknappt: Populismus, Aushöhlung der Demokratie, alte Nazis, neue Nazis, AfD, Verrohung der Gesellschaft, Raubtierkapitalismus.

Last but not least, es kann verraten werden: am Ende wird Victor erschossen, von der PAF, der „Porsche Armee Fraktion“. Puh, nochmal davongekommen.

„Ich habe eine Redewendung gehört, laut der man jeden Tag so leben sollte, als sei es der letzte. Ich denke, dass ich da noch einen draufsetzen kann. Ich lebe so, als würde der nächste Moment mein letzter sein.“ Der das sagt, ist  Jaakko Mikael Kaunismaa, 37 Jahre alt, erfolgreicher Pilzhändler im finnischen Niemandsland. Seine Frau Taina und er handeln seit einiger Zeit lukrativ mit Matsutake, dem sogenannten Kieferduftritterling, der nur in diesen finnischen Wäldern wächst und sich nicht züchten lässt. Der Pilz gilt in Japan als Delikatesse,  wird gehandelt wie  Trüffel und ist ein Symbol für Fruchtbarkeit.

Und nun das: Jemand hat Jaako vergiftet. Er wird sterben, die Ärzte können ihm nicht helfen. „Man könnte sagen, dass es Ihnen jetzt so gut geht, wie es Ihnen unter den Umständen gehen kann. Bis zu dem Tag, an dem es Ihnen schlechter gehen wird.“

Alles eben nur eine Frage der Zeit. Und nicht genug, muss der Todgeweihte zuhause auch noch feststellen, dass die Gattin, anstatt ihn dort zu erwarten und zu trösten, lautstark und halbnackt auf der Terrasse auf dem guten Freund und Mitarbeiter Petri reitet. Verdammte Axt. Zur Krönung hat sich außerdem noch Pilz-Konkurrenz eingestellt und die hat eine fatale Affinität zu ellenlangen und sehr scharfen japanischen Kampfschwertern.

Es entwickelt sich eine muntere Krimihandlung mit den üblichen Zutaten, Leichen – mehrere, Verfolgungsfahrten – kreisförmige, Kämpfe – blutige. Hier könnte dieser Text auf sein Ende einbiegen, wenn nicht, …. ja wenn dieses Buch nicht eines der wenigen wäre, bei dem das Statement des Testimonials auf dem Cover glaubwürdig und wegweisend wäre. Der berühmte finnische Filmemacher Aki Kaurismäki wird da bemüht und wer dessen Filme kennt (u.a. „I hired a contract killer“ aus dem Jahr 1990) weiß, was kommt. Der Autor bedient in den Abschnitten „Tod“, „Leben“ und „Liebe“ das komplette Repertoire des sehr speziellen finnischen Humors. Surreal, lakonisch, völlig abgefahren. Antti Tuomainen ist einer der angesehensten und erfolgreichsten finnischen Schriftsteller. Er wurde u.a. mit dem Clue Award, dem Finnischen Krimipreis ausgezeichnet, seine Romane erscheinen in über 25 Ländern. Ebenso sollen die Übersetzer Jan Costin und Niina Katharina Wagner erwähnt werden. Auch wenn manche Kritik an den Feinheiten der Wortwahl im Deutschen zu kritisieren hatte, muss konstatiert werden, dass den beiden eine hervorragende Übertragung ins Deutsche gelungen ist.

Jaako macht sich daran, die Dinge zu klären. Er hat nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren. Wer hat ihn vergiftet? Seine Frau? Sie würde die Firma erben. Deren Liebhaber? Der würde die Frau erben. Die Konkurrenz? Die sich schon daran gemacht hat, mit Durchsetzungskraft seine Leute abzuwerben. „Meine Gedanken erschrecken mich ein wenig. Dunkle Gedanken. Manchmal ist man von seinen eigenen Gedanken überrascht. Erst wenn sie da sind, begreift man, dass man fähig ist, sie zu denken.“ – und er handelt auch danach. Dabei entwickelt er zwischen Sehstörungen, Schwindelattacken und Übelkeit eine bemerkenswerte Vorliebe für große Mengen an Eis und Cola.
Die Geschehnisse schlagen Haken wie die Kaninchen auf der Flucht vor dem Fuchs und heben auch bald immer wieder sprachlich und dramaturgisch ein paar Zentimeter vom Boden der Realität ab. Und dann kribbelt es vor Vergnügen im Bauch beim Lesen wie ganz oben auf der Achterbahn.

Kostprobe gefällig – an einer Hotelrezeption:

Der Drucker surrt, quietscht und klappert. Ilaris Blick wandert zu Boden, er stößt ein unterdrücktes Fluchen aus. Ich höre, wie das Gerät Papier ausspuckt.

„Es hört nicht auf. Es hört einfach nicht auf.“

„So sind sie, diese Drucker“, sage ich. „Das ist gewissermaßen ihr Naturell. Die drucken immer, wenn man es gerade nicht brauchen kann. Und wenn man sie braucht, streiken sie. Dann sind die Patronen leer, oder die Papierzufuhr ist defekt, oder die Maschine erkennt den Computer nicht oder umgekehrt. Wahrscheinlich wurde das digitale Zeitalter mit seinen virtuellen Inhalten genau deshalb erfunden. Weil die verdammten Drucker uns in den Wahnsinn treiben. Nichts gegen Papier, Papier ist nicht das Problem. Das Problem sind die schwarzen Buchstaben, die irgendwie auf das Papier draufmüssen. Ich vermute, nein, ich bin mir sicher, dass die Hersteller von Druckern und die Hersteller von Antidepresssiva unter einer Decke stecken. Das ist ein Komplott.“

Es ist ganz einfach: man liebt dieses Buch oder legt es nach spätestens 40 Seiten weg.

Hier kommt das Buch zur Stadt! Das Thema „Kreuzfahrt“ und „Kreuzfahrttourismus“ und „Kreuzfahrttouristen“ erobert die deutschsprachige Hochliteratur. Möchte man zumindest denken, denn niemand anderes als der Träger des letztjährigen Deutschen Buchpreises, Bodo Kirchhoff, nimmt sich nun des Sujets an. Auf feinen 130 Seitlein, ein „Nebenwerk“, wie der Autor selbst sagt. Die Leser sind wahrlich Großes und Bedeutendes, Tiefes und Existenzielles aus dieser Feder gewohnt, erst letzten Herbst „Widerfahrnis“, in früheren Jahren auch Titel wie „Parlando“ oder „Die Liebe in groben Zügen“.

Aber – der Mann kann auch ganz, ganz anders; wir erinnern uns an „Schundroman“ aus dem Jahr 2002, eine herrlich trashige Parodie auf den Literaturbetrieb, meisterhaft konstruiert nach dem Muster aller Groschenhefte dieser Welt. Oder „Erinnerungen an meinen Porsche“, in dem ein Investmentbanker in einer Kurklinik in der Mitte von nirgendwo nach einer Attacke auf seine Männlichkeit (nämlich besagten Porsche) mit seinen Problemen kämpft, eine ziemlich geniale Verschränkung von Trivialliteratur und den großen Themen der Welt.

Doch zurück zum aktuellen Buch: Ein Autor, durch den die Person des Verfasser doch immer wieder deutlich hindurchschimmert, erhält eine Einladung, als Gastkünstler an einer Kreuzfahrt teilzunehmen. Durch die Karibik, von Havanna nach Havanna, über Weihnachten und Neujahr. Alles gratis und umsonst, er muss dafür nur mehrfach auf der Arkadia II der Arkadia Line aus seinem umfangreichen Werk lesen. Verlockend, .. auf den ersten Blick diese Mail, aber der Hase liegt im Anhangpfeffer. Da steht auf 18 ausufernden Seiten ausgeführt, was man vom „Sprachlieferanten“ an Verhaltensweisen etc. auf dem Schiff erwartet. „Sie werden in der Buchhaltung als Lieferant angelegt, heißt es da, ein Vorgang, der bis zu zwölf Wochen dauern kann. Und: bitte beachten Sie, dass Sie in der Zeit einen Anruf aus Miami erhalten. Dort befindet sich der Sitz von Diamond Cruises, unserer Muttergesellschaft, und die Hauptbuchhaltung. Die Kollegen werden telefonisch die letzten Ziffern ihrer Bankdaten abgleichen. Zitat Ende.“

Stets freundlich allen und allem gegenüber, zugewandt den zahlenden Passagieren, aber nicht zu nah, weder moralisch noch unmoralisch sprechend – so hat er sich zu betragen; darauf hat der „Edutainer“ nur eine Antwort, nachdem er die Unmöglichkeit der Umsetzung dieser Maßgabe an der Kreuzfahrt-Front mit genüsslicher Bösartigkeit seziert hat:„Die Reederei sollte also wissen, dass ich auf dummes Gerede noch dümmer antworte und dazu noch ein Meister im Beenden unerwünschter Unterhaltungen bin.“

UND: alle Lesestücke vorher der Reederei vorlegen – wie soll das gehen? Ein Schriftsteller zwischen Amusement Arcades und Schlagerunterhaltungen? „Dort fliegt das Konfetti, und im entlegensten der Salons – an der Tür ein weißes Schild mit den Worten Lesung, bitte Ruhe in schwarzen Buchstaben wie die Überschrift einer Traueranzeige – sitzt der Schriftsteller im Schein einer Lampe, vor sich auf dem Tisch sein Buch und ein Glas Wasser, und selbst wenn er guter Dinge ist, kommt er damit nicht gegen das Türschild an.“

Der Autor antwortet, nimmt sich Zeit, ausführlich, ausschweifend, manchmal eindeutig, manchmal zweideutig; manchmal ätzend zynisch, manchmal philosophisch pointiert. Immer wieder befeuert von einem guten Schluck des guten Whiskeys. Und so dezent innerlich „befeuchtet“, entsteht eine kleine tour de force durch das Leben des Autors, Liebe und sexuelle Vorlieben, seine Sicht auf die Mitmenschen,  auf die Weltpolitik, auf den kleinen schwerhörigen Hund, die Dicke von Wänden, wenn nebenan Körpersäfte fliessen, die Besucherzahl bei Lesungen in Literaturmetropolen wie Gütersloh, alles nicht ohne Selbstverliebtheit, aber auch mit viel Selbstironie. „Oft harmonieren wir ja nicht einmal mit den uns sexuell Nahestehenden, auch wenn wir das Bett mit Ihnen teilen und sie vor dem Einschlafen küssen, was nur manchmal nichts anderes ist, als einem Hund die Hand aufs Maul zu legen, um das Gefühl der Fremdheit der überwinden.“ Peng!

Und natürlich wird auch kein böses Klischee ausgelassen: „Ich darf hier festhalten: Der Holländer ist laut, der Franzose aufgeblasen, und der Österreicher, der wahllos Komplimente verteilt, nicht gerade glaubhaft; von den Schweizern, die uns rundheraus ablehnen, gar nicht reden.“

Kirchhoff schreibt erfrischend ohne Moral, piekst oft dahin, wo es weh tut, hält uns den Spiegel in der Außenkabine vor, hebt aber niemals den Zeigefinger. Das macht das Buch auch für diejenigen lesbar, die regelmäßig an Bord gehen und auf diese Art von Urlaub und Entspannung schwören. Ob der Autor im Text die Einladung annimmt, lassen wir an dieser Stelle offen und schließen: „… hier gilt das alte Goethe-Wort: Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen!“

(Entzauberte) Ikonen der Jugend

Erinnern Sie sich? An „Demian“, „Unterm Rad“ und „Steppenwolf“? An „Wer die Nachtigall stört“ oder „Tonio Kröger“: die „coming of age“ – Romane einer Jugend in den 1980ern, die man damals noch nicht so nannte. Heute wären das vielleicht „Tschick“ oder „Alle Toten fliegen hoch“.

Ende Januar 2010 starb im Alter von 91 Jahren der Autor eines der wohl bekanntesten Bücher des 20. Jahrhunderts: „Der Fänger im Roggen“ von Jerome David Salinger. Nach seinem Erscheinen im Jahr 1951 wurde das Buch zu einem Millionenseller. Noch heute gehen nach Angaben der New York Times jedes Jahr 750.000 Exemplare allein in den USA über den Ladentisch. Das Buch sprach und spricht vor allem die Jugend an und so wurde es und ist es noch immer ein Kultbuch vieler Generationen. Sogar die zweifelhafte Ehre der Aufnahme in den Lehr- und Lektüreplan bundesdeutscher Schulen, wahlweise im Deutsch- oder im Englischunterricht, wurde ihm verliehen.

Salinger selbst wurde die Publicity bald zu viel. Im Jahr 1953 zog er sich komplett zurück und lebte seither in New Hampshire. In der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit blieb er ein literarisches One-Hit-Wonder.

Die Geschichte des Fängers im Roggen ist schnell erzählt: Der 16-jährige Holden Caulfield erzählt im Ablauf dreier Tage im Dezember, warum er immer wieder aus Internaten fliegt, wie er durch das winterliche New York irrt, wie verlogen er die Welt der Erwachsenen findet und wie er am Ende seiner Odyssee im Krankenhaus landet.

Und nun – im Endspurt auf die 50 sitzt die Schreiberin dieser Zeilen und kämpft mit dem Text. WIEDERGELESEN! Nicht gut! Schon nach wenigen Seiten des WIEDERLESENS wird klar: der zarte Schmelz jugendlicher Verklärung ist dahin. Mit zunehmender Verärgerung arbeitet sich das nunmehr ältere Semester durch die holprigen Sätze und entwickelt zunehmend eine nicht zu relativierende Aversion gegen das pubertäre Bübchen und seine eitle, nicht enden  wollende, stakkato-artige Selbstbespiegelung. Man möchte ihn fast packen und schütteln, aus der Geschichte hinaus – auf den „Boden der Tatsachen“.

In der verwirrenden Zeit der eigenen Adoleszenz, DAMALS!!!, da hatte das Büchlein fast magische Faszination und Sog: auf der einen Seite Rebellion und Anrennen gegen die Normalos und Spießer in der Schule und Zuhause. Auf der anderen Seite die Achterbahn der Pubertät: Liebeskummer, Weltschmerz, Weltekel, sich unverstanden fühlen. Holden Caulfield, Bruder im Geiste. Vorbei. Gründlich und endgültig.

Auf Seite 84 wird das WIEDERLESEN erst unter- und dann abgebrochen – der Wiederleser ist zu alt, zu erwachsen, zu routiniert im Leben, zu abgefuckt, zu stumpf, …? Liegt das am Leser? Oder am Text? Die anderen Helden und Heldinnen der Jugend werden nochmals befragt: „Lederstrumpf“, „Dolly“, „Hanni und Nanni“, „Unterwegs“, ………… Hesse, Kerouac, Blyton, …. es funktioniert einfach nicht mehr.

Die Leserin legt Holden Caulfield auf Wiedervorlage – vielleicht in 15 Jahren, wenn sich der Kreis schließt, wenn sie alt genug ist – vielleicht wird sie dann wieder sicht- und fühlbar, die Faszination von vor 30 Jahren.

Schon das Motto straft den Klappentext Lügen. Da wird von einer „Provinzgeschichte über die großen Fragen des Lebens“ gesprochen. Das Zitat, das dem Text vorangestellt ist, aber heißt:

„Sein Fels ist seine Sache.“ von Albert Camus

Also keine Provinzgeschichte über die großen Fragen des Lebens, sondern eine Geschichte über die großen Fragen des Lebens, die in der Provinz spielt. Denn hier wird der Mythos des Sisyphos bemüht, nichts weniger oder kleiner. Dass das genau die Absicht der Autorin ist und nicht ein Zufallstreffer aus der Zitatendatenbank, sagt dem Leser gleich der erste Satz des Textes: „Mutter ist weg.“ Eine Paraphrase auf den ersten Satz des Romans „Der Fremde“ von Camus: „Heute ist Mutter gestorben.“ Und dieser Satz ist wie in der Musik das Thema des Buches, das die Autorin auf gut 200 Seiten variiert.

Verlust ist das Grundthema der Geschichte. Hans Matuschek ist 40 Jahre alt als seine Mutter stirbt. Damit gerät sein Leben vollständig aus den Fugen. Das große Kind ist hilflos: Beerdigung, Wäsche waschen, die Tauben versorgen, pünktlich zur Arbeit erscheinen, einkaufen. Erst hilft Igor, der Nachbar, mit dem unüberwindbaren Verwaltungskram. Seine Frau Galina kocht. Igor und Galina verkuppeln Matuschek mit Irina und die Männer gehen zusammen angeln. Freund Witt gibt Ratschläge für die Taubenzucht. Und warnt vor dem vermeintlichen neuen Freund, der ins Nachbarhaus zieht. Am Ende sind sie alle weg, gegangen, gestorben, …

Die Geschichte spielt in der nordostdeutschen Provinz, im abgehängten Nirgendwo, zwischen Lubmin im Kreis Vorpommern-Rügen, wo zu DDR Zeiten das Kernkraftwerk Nord in Betrieb war, und der Küste. Matuschek, die Autorin duzt ihren Protagnisten nicht, arbeitet auf einem nahegelegenen Flugplatz als Wetterbeobachter. Bis er diese Arbeit verliert. So, wie sein Kollege prophezeit hat: „Wie hier, …, sind wie Heizer auf ner E-Lok.“

Witt, der im Kernkraftwerk gearbeitet hat, bringt sich im Bunker unter seinem Haus um. An dem Ort, den er akribisch fürs Überleben nach der Katastrophe hergerichtet und ausstaffiert hat. In seinem  Abschiedsbrief schreibt er: „Mir bleibt nichts. …. Die Einsamkeit ist allein deswegen einsam, weil sie einsam ist. Das musst Du mir versprechen, dass niemand über mich spotten wird. Noch habe ich recht darin.“

Mit den ersten Verlusten versucht Matuschek noch sich zu arrangieren, doch bald verlassen den mecklenburgischen Sisyphos die Kräfte, um den Fels wieder und wieder den Berg hinaufzurollen. Matuschek verwahrlost zunehmend, er säuft, vernachlässigt sich und die Tiere; der Traum vom gemeinsamen Urlaub in Norwegen mit Irina rückt in unendliche Ferne. Mit den Menschen verliert er den Halt. Die (nackte) menschliche Existenz, geworfen auf sich selbst. Da hilft auch die ganz laute Musik aus dem Autoradio nicht: „Hinterm Horizont …. Endlich geht’s mir wieder gut und ich hab jede Menge Mut und steh da richtig drüber.“

Kerstin Preiwuß, Jahrgang 1980 wurde in Lübz geboren und lebt als freie Autorin in Leipzig. Ursprünglich Lyrikerin, ist „Nach Onkalo“ ihr zweiter Roman. Dass sie aus der Poesie kommt, ist auch in der Sprache dieses Buches deutlich zu spüren. Unauffällig, nahezu beiläufig, mit vermeintlich großer Distanz und einer Chronistenpflicht gehorchend, hat sie diese Geschichte aufgeschrieben. Doch jeder Satz ist Teil der großen Komposition, da sitzt jede Vokabel.

Die gute Nachricht zum Schluss: anders als im Camus’schen „Versuch über das Absurde“ hat dieses Buch fast so etwas wie ein Happy End, in dem wir auch erfahren, was es mit „Onkalo“ auf sich haben könnte.

Trübsal blasen wir wohl alle mitunter,
aber Konzerte damit zu geben, ist nicht empfehlenswert.
Eduard Graf von Keyserling

In seinem neuen (Künstler)-Roman widmet sich der Autor Klaus Modick, nach dem Kosmos Worpswede in seinem Buch „Konzert ohne Dichter“, nun einem weniger prominenten, immer wieder einmal in das Bewusstsein der lesenden Menge aufzüngelnden Dichter und Dramatiker, Eduard von Keyserling. In „Keyserlings Geheimnis“ führt er den Leser in einer Verflechtung verschiedener Zeit- und Erzählebenen an die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert und die Jahrzehnte zuvor. Und es scheint, als hätte Modick „seinen Ton“ für dieses Sujet gefunden.
Eduard Graf von Keyserling wurde 1855 in Tels-Paddern im damaligen Herzogtum Kurland, heute Lettland, geboren. Er studierte Jura in Dorpat (heute Tartu), aus dem er jedoch, bei Nacht und Nebel überstürzt und ohne akademische Weihen, verschwand – um später erst in Wien, dann im Münchner Stadtteil Schwabing, häufig in illustrer, künstlerischer Gesellschaft wieder aufzutauchen.
Was damals an der Universität in Dorpat vorgefallen war, ob überhaupt etwas geschah, das diesen überstürzten Aufbruch erklären könnte, ist bis heute unbekannt und unbewiesen. Keyserling starb 1918 krank und verarmt in München, seinen Nachlass hat er bis auf sehr wenige Dinge vernichtet oder vernichten lassen. So kann Modick seine ganze dichterische Phantasie in diese „süße Lücke“ werfen. Und den Leser im Sittengemälde dieser Zeit das Schmöker-Maul wässrig machen: Liebe, Sex, Verrat, Untreue, Glücksspiel, Betrug, Sucht, Langeweile?
Bestehen kann allerdings die Vermutung, dass der Umzug nach München, die Flucht aus der miefigen, ehrpusseligen Provinz und der Abbruch des Studiums der trockenen Rechtswissenschaften sein künstlerisches Schaffen überhaupt erst ermöglicht oder zumindest beflügelt haben. Über Keyserlings Roman „Wellen“ schrieb ZEIT Autor Michael Maar im Jahre 2011 und überschrieb den Artikel völlig unironisch „Der ist ja besser als Fontane!“
Der Hauptstrang der Erzählung führt den Leser ins Jahr 1901: der damals erfolgreiche erfolgreiche Dramatiker Max Halbe lädt einige seiner Freunde ein, ihn in die Sommerfrische am Starnberger See zu begleiten. Diese Einladung spricht er in einer Kneipe aus, die auf den schönen Namen „Dichtelei“ hört. Die ganze Szene ist sicherlich ein Höhepunkt des Buches, insbesondere der „Auftritt“ des Dichters Frank Wedekind.
Generell sind Modicks mit vermeintlich schnellem, aber umso pointierterem Strich quasi hingeworfene Aperçus der Eigenheiten der Clique, die Ausstaffierungen, Eitelkeiten, kleinen Bösartigkeiten ein willkommener Kontrapunkt zum latenten Schwermut des baltischen Adligen.
Keyserling folgt der Einladung Halbes zusammen mit einer Reihe anderer Künstler, so auch dem Maler Lovis Corinth, der in Begleitung seiner aktuellen, jungen und schönen Eroberung ebenfalls anreist. Keyserling ist zu diesem Zeitpunkt schon schwer und für die Umwelt sichtbar an Syphilis erkrankt, offenbar hat er sich in Wien bei einem der zahlreichen Besuche in einem einschlägigen Etablissement angesteckt. „Manchmal fragt er sich, wer eigentlich dieser Untote ist, der ihm da im Spiegel ins Auge blickt und hinter dem seine wahre Person immer unscheinbarer zu werden scheint.“ Doch Corinth will Keyserling unbedingt malen.
Corinths Freundin und Keyserling treffen sich zufällig und züchtig morgens früh am Badesee:
„Der Lovis sagt, dass du Geheimnisse hast.“
„Jeder Mensch hat Geheimnisse“, sagt er.
„Der Lovis findet, dass dich das interessant macht. Und deshalb will er dich malen.“
„Unfug.“ Er schüttelt heftig den Kopf. „Du bist jung, du bist schön. Dich soll er malen. Nicht mich in meiner strahlenden Hässlichkeit.“
Doch am Ende willigt er ein und sitzt dem Maler in der Sommersonne Modell. Corinth versucht dabei, Keyserling auszuhorchen, hinter dessen Geheimnis zu kommen. Ohne Erfolg. Nur der Leser erfährt in Rückblenden, was war.
Und als das Werk vollbracht ist: „Es mach ja jut jemalt säin“, sagt er vielmehr leise und hört plötzlich in seiner Stimme den sanften Singsang der baltischen Mundart, ganz wie jene Opernsängerin, die sich erschrak, als sie zum ersten Mal ihre Stimme auf einer Grammofonplatte hörte. „Und jut unterhalten hat das Lovischen mich dabäi auch. So aussehn mecht ich aber lieber nich.“
Das Bild existiert bis heute; es hängt in der Neuen Pinakothek in München.
Und das letzte Wort überlassen wir an dieser Stelle dem Grafen:
Er hebt sein Weinglas. „Lass uns anstoßen.“
„Worauf?“
„Auf die Korrekturbogen des Lebens.“

Sie zündete uns beiden eine Zigarette an, bevor sie sagte:
„Erzähl mir etwas aus deinem verkorksten Leben, damit ich meines vergesse.“

Die Kritiken sprechen über eine „furiose Road-Novel“ (SPIEGEL online), einem „Roadmovie“ (Deutschlandfunk) oder einem „fantastischen Road-Trip“ (Zeit online) und immer schwebt über allem ein Hauch von „Thelma und Louise“. Okay, ich bin raus. Ich kenne „Thelma und Louise“ nicht. Ich hab das nicht gesehen. Habe vorsichtshalber mal nachgeschlagen, was kluge Menschen zum Genre „Road Movie“ geschrieben haben. Versuche es also trotzdem mal.
Zwei verkorkste Frauen, kurz vor der Midlife Crisis, von lebensuntüchtigen Müttern und an- und abwesenden diversen Vätern nachhaltig beziehungsgeschädigt, machen sich als Suizid-Taxi von Berlin auf in die Schweiz. Martha, verheiratet und kinderlos, gestresst von Kinderwunsch-Hormon-Behandlungen und Betty, Schriftstellerin und Journalistin mit mäßigem Erfolg und eben solchen Einnahmen.
Marthas biologischer Vater (long time no see), vom Krebs zerfressen, verlangt einen letzten töchterlichen Liebesdienst, die Fahrt in Richtung Todespille. Zur mentalen und fahrtechnischen Verstärkung nimmt Martha ihre Freundin Betty mit. Die beiden Frauen fahren mit dem bei jedem Atemzug beängstigend pfeifenden Kurt (ebenso wie sein uralter VW Golf) auf dem Rücksitz gen Süden. Und dabei, und während der zahllosen Kilometer, die noch vor ihnen liegen, passieren Gedanken und Unterhaltungen:
„Ich habe keine Lust, darüber zu reden.“, sagte ich. „Über Männer“
„Okay. Ich auch nicht. Ist auch öde.“
„Damit hat man mit zehn schon angefangen. Immer über Jungs reden. Immer unglücklich sein. Das ist so nahtlos. Erst redet man drei, vier Jahrzehnte über Männer, und dann redet man über Krankheiten. Wenn das kein vergeudetes Leben ist.“
oder
„Als ich das letzte Mal durch den Görlitzer Park gelaufen bin, haben die mir nicht mal mehr was angeboten. Dann fühlst du dich echt alt, wenn dich die Dealer nicht mehr ansprechen.“ …
„Wenn wir erst mal sechzig sind“, sagte sie, „stehen wir wieder auf der Liste.“
„Ist doch absurd, oder? Man hört in einem Alter mit Droge auf, wenn man sie am Nötigsten braucht.“ Als ich das sagte, fiel mir ein, dass ich am Morgen meine Tablette vergessen hatte. Die Drogen änderten sich bloß. Ich ging ins Bad, um eine Citalopram zu schlucken.
oder
„Im Notfall“, sagte Kurt, „brauchst du keine Freunde. Im Notfall brauchst du einen guten Arzt oder einen Anwalt. Freunde brauchst du für die guten Zeiten, die schlechten schaffst du auch allein. Für das Glück brauchst du Freunde. Wer kann denn allein feiern? Das Glück kannst du teilen, aber nicht das Leid. Das Leid wird immer nur verdoppelt.“
Kurz vor der Schweizer Grenze rückt Kurt dann auch mit der Wahrheit heraus. Es gibt gar keine Verabredung zum Suizid. Er möchte an den Lago Maggiore, um dort zu einer alten Jugendliebe zurückzukehren, mit der er seit einiger Zeit wieder Kontakt hat.
Martha und Betty liefern also den sterbenden Vater versorgt mit ausreichend Windeln und fast ausreichend Morphium bei Francesca in Stresa ab. Und  fahren weiter in Richtung Rom, um nun eine Lücke in Bettys Kindheit zu füllen. Einer der Freunde der Mutter war Ernesto, der Posaunist. Auch er verschwand grußlos aus dem Leben des Mädchens, riss ein Loch, eine Wunde, die nie ganz verheilte. In einem Rausch aus Nikotin, Alkohol, Antidepressiva-Entzug und chronifizierter Verzweiflung finden die beiden das gesuchte kleine Dorf in den Bergen und dort die Spur des „Vaters“.
„Was wollten Sie an Ernesto Carlettis Grab?“, fragte er.
„Ich habe versucht, es zu öffnen“, erklärte ich, ….
„Was wollten Sie aus dem Grab entwenden?“
„Gar nichts wollte ich entwenden. Ich wollte etwas dazu legen“, sagte ich.
„Was?“
„Mich.“
…
„Sind Sie verrückt?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich. „Inzwischen schon.“
Dass mit dem Grab und der ganzen Geschichte auch bei diesem Vater irgendetwas nicht stimmt, wird bald klar und so setzen beide ihre Reise getrennt fort. Betty auf eine kleine griechische Insel, Martha an den Lago Maggiore und am Ende doch wieder gemeinsam.
Gut, da ist auch ganz viel „Road“ mit im Spiel, aber für diese Figuren, diese Elenden, die sich an ihren Überlebens-Zynismus klammern wie Ertrinkende an das sprichwörtliche Stück Treibholz ist das Setting im Kern fast sekundär. So, wie der altersschwache VW Golf Kilometer frisst und Bewegung und Voranschreiten symbolisiert, so fest stecken die Figuren in ihren persönlichen Katastrophen und Dilemmata. Und jeder Versuch, sich zu befreien, sich zu bewegen, endet in einem innerlichen Aufheulen, das klingt, wie das Anfahren eines Autos bei angezogener Handbremse.
Als Leser kann man das alles nur aushalten, weil die Autorin in die präzise gebauten Dialoge einen Schutzabstand aus schwarzem Humor und Ironie zwischen die Figuren und deren Sturm der Emotionen und die Welt außerhalb der Fiktion baut.
Danke dafür und für diesen Text.

„Im Licht tut alles weniger weh.“

Ja, dieses Buch ist ein Krimi. Es hat schließlich den Deutschen Krimipreis 2018 bekommen. Es gibt Tote und Polizei und Mörder und Blut und Waffen. Alles da also für die „klassische Rezeptur“.
Oliver Bottini wurde 1965 geboren und lebt in Berlin. Der diesjährige Krimipreis ist nicht die erste Auszeichnung für seine zahlreichen Bücher. Am bekanntesten sind die Romane um die Freiburger Kommissarin Louise Bonì.
Dieser Plot führt den Leser in das ländliche Rumänien der Gegenwart. Ein junges Mädchen, Tochter eines „Großgrundbesitzers“, eines Deutschen, wird erstochen. Die Lösung des Falles, die sich Kommissar Ioan Cozma und seinen Kollegen quasi auf dem Silbertablett präsentiert, scheint einfach, zu einfach. Die Beamten forschen weiter und stoßen bald auf andere Hintergründe und Zusammenhänge.„Cozma nickte, obwohl er noch nicht alles verstand, doch immerhin begann er, das Wesentliche zu begreifen: Das Einfache existierte nicht, es war nur der Augenschein. Von Anfang an war alles in diesem Fall kompliziert gewesen.“
Der komplementäre Part der Handlung spielt in Mecklenburg-Vorpommern, in einem Dorf namens Prenzlin. Im Wolfserwartungsland, östlich der A 19, wo die Dörfer leer sind und verfallen.
Und bald erschließt sich, welches Thema der Autor unter der Krimihandlung und neben den menschlichen Tragödien der Vergangenheit verhandelt. Es geht um Land Grabbing.  Um die „Aneignung“ von riesigen, nach Möglichkeit zusammen hängenden landwirtschaftlich genutzten Flächen durch Großkonzerne und branchenfremde Investoren. Dort werden in Monokulturen Nahrungsmittel oder Biomasse für den Export angebaut, die der Ernährungs- und Energiesicherung der Herkunftsländer der Käufer  dienen.
Dankenswerterweise stellt Oliver Bottini auf seiner Homepage eine große Auswahl seines eigenen Recherchematerials vor, das sich fast so spannend liest wie das Buch selbst.
Er schildert den Ausverkauf Rumäniens durch Chinesen, Araber, Investoren aller Art und Couleur: die Methoden der Aufkäufer auf den Sofas der Kleinbauern – Zuckerbrot und Peitsche, das Re-Design der agrarischen Landschaft durch das Einebnen von Hecken, Abgrenzungen und Fruchtfolgen, damit auf riesigen uniformen Flächen die Monokultur einziehen kann. Und schlägt den Bogen zurück in das Mecklenburg-Vorpommern der unmittelbaren Nachwendezeit, als die unselige Interessenvereinigung von Brüsseler Subventionspolitik, Treuhand’scher Privatisierungsmaxime und LPG-Nachfolgen verhinderte, die riesigen Flächen wieder in überschaubare Größen zerfallen zu lassen.
Zwischen diesem Wirtschaftskrimi und Ökokatastrophenszenario torkeln zerstörte, von Verlusten und persönlichen Enttäuschungen gezeichnete Gestalten durch beide Erzählstränge, begegnen sich, verstehen sich fast wortlos, laufen wieder auseinander.
„Wenn es so einfach gewesen wäre.
Einfach nicht, aber dafür friedlich. Eine friedliche Revolution.
Richtig, ihr hattet keine Toten.
Vorher und nachher schon.
Nachher?
Selbstmorde. Stasi-Leute, Offiziere. Parteikader. Und bei Euch?
Über tausend. Die meisten erst nach der Hinrichtung von Ceausescu am 25. Dezember. Ist noch nicht ganz klar, was genau geschehen ist. Welche Rolle haben Ceausescus Gegner in der Kommunistischen Partei, das Militär, die Securitate gespielt. Deshalb nennen es die einen „Revolution“, die anderen „Staatsstreich“.“
Und wie das Leben und die Erinnerungen der Figuren so ist auch deren Sprache: hilflos, karg und barsch, voll von nicht Gesagtem.
Michael Winter, einer der Protagonisten, hat 2011 im Sandsturm bei der Massenkarambolage auf der A 19 kurz vor Rostock seine gesamte Familie verloren. Er flieht vor der Erinnerung nach Rumänien, doch die Schuld und die Geister seiner beiden Kinder kann er nicht abschütteln.
„Ein Sandsturm in Mecklenburg? Es musste irgendwann passieren. … Dreißig, vierzig arrondierte Hektar, der ganze Kunstdünger, Monokulturen, die erodierten Böden, dann die Trockenheit in den Woche davor, der Wind an dem Tag selbst, und der Bauer grubbert den Acker …. Also trägt der Wind die oberste Krume mit neunzig Stundenkilometern ab, und so wird eben ein Sandsturm daraus. Kein Baum, keine Hecke zwischen den Parzellen, weil es ja keine Parzellen mehr gibt, kein Feldgehölz, nichts, was ihn abgebremst hätte. Und die Hecke am Feldrain haben sie 2007 abgeholzt, vor dem G-8 Gipfel in Heiligendamm.“
Der rumänische Polizist Ioan Cozma, den seine Folterer-Vergangenheit wieder einholt, der Vater des Mordopfers, über den ein arabischer Geschäftsmann sagt: „He is another person in another life now“., sie alle verlangen dem Leser eine Menge ab: Zeit, Aufmerksamkeit, intensive Beschäftigung und empathische Anstrengung – Gute-Laune-leichte-Krimi-la-la-Lektüre ist das wahrlich nicht.
 „Wenn die guten Zeiten vorbei sind, was wird dann aus uns, Adi? Na, hoffentlich sind sie vorbei! Nach den guten Zeiten kommen doch die besten.“

„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.“ Sören Kierkegaard

Dies ist kein Text über ein Buch. Oder einen Autor. Dies ist ein Text über Lebenswerke. Zwei. Aber der Computer möchte einen Titel und einen Autor – also halten wir uns dran. Zum Schein.
Schon vor fast drei Jahren erschienen die Lebenserinnerungen des englischen Neurologen Oliver Sacks. Gerade rechtzeitig hatte der „Schriftsteller unter den Ärzten“ sich hingesetzt  und sein Leben aufgeschrieben. Am 30. August des gleichen Jahres starb er in New York.
Berühmt wurde Sacks 1973 mit einem Buch über seine Arbeit mit Patienten, die nach einer Gehirnentzündung in eine vollständige Starre gefallen waren. „Zeit des Erwachens“ wurde einige Jahre nach seinem Erscheinen mit Robin Williams verfilmt.
Durch das Aufkommen von L-Dopa begann er, mit diesen Menschen zu arbeiten und experimentierte mit dem Wirkstoff. Generell wird dem heutigen Leser bei der Lektüre, vor allem der früheren Schilderungen über die Arbeitsweisen in der damaligen Neurologie und Psychiatrie deutlich, wie schnell Wissen und therapeutische Methoden in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschritten sind. Im Jahr 2018 kräuselt sich bei einer Vokabel wie „Insulinschock“ leicht die Kopfhaut; eine Vorgehensweise, die damals „state of the art“ war.
Sacks Mutter, eine angesehene und allseits respektierte Ärztin kommentierte die Erkenntnis, dass ihr Sohn Oliver homosexuell war, mit den Worten: „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“ Ein Wunde, die der Sohn mehr als 60 Jahre später mit viel Gelassenheit und Großzügigkeit kommentiert, die aber in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg, in denen Homosexualität kriminalisiert und gesellschaftlich vollständig tabuisiert war, prägend für sein Leben war.
Geboren wurde er 1933 in London als einer von vier Söhnen eines jüdischen Arztehepaares. Es war von Anfang an klar, dass auch er, wie zwei weitere seiner Brüder, Arzt werden würde.
1960 fuhr er für einen Urlaub nach Kanada – eigentlich um der Einberufung zum britischen Militär zu entgehen und in Kanada eine Art Ersatzdienst in einem Land des Commonwealth abzuleisten, – aus dem dann nichts wurde. Den größeren Teil seines Lebens verbrachte er in der Folge in den USA.
„On the move“ ist ein absolut treffender Titel – zum einen für das Buch selbst. Sacks hat sein Leben lang wie besessen Tagebuch geführt, er ging nie ohne ein Notizbuch aus dem Haus. So entstanden auch Reise-Tagebücher und aus diesen wird in „On the move“ ausführlich zitiert. Es zeigt zum anderen auch, wie dieser Mensch sein Leben lang „in Bewegung“ war – im Wortsinne und im Geist. Themen, Orte, Menschen, Projekte, Diagnosen rauschen am Leser vorbei, Namen wie Aldous Huxley, W.H. Auden und vieler anderer Berühmtheiten bevölkern die Szenerie. Freundschaften, private und kollegiale, sind für Sacks ein ebenso großes Thema wie Familie und er pflegte sie, auch brieflich, teilweise über Jahrzehnte. Und wie es der Teufel will, hat er nicht nur  Briefe aufbewahrt, die er bekommen hat, sondern auch die eigenen kopiert. 
Im Laufe der Jahrzehnte sind so zahlreiche Bücher und Artikel entstanden, in denen Sacks Menschen beschreibt, deren Kampf oftmals nicht der Kampf „gegen“ ihre Krankheit ist, sondern der Kampf, „mit“ der Krankheit zu leben.

Eigentlich hätte schon längst Schluss sein sollen mit dem Bücher schreiben. Als 2008 „In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet“ erschien, schien der Lebenskreis geschlossen. Und der Autor Irvin Yalom, immerhin Jahrgang 1931, plante keine größeren Projekte mehr. Doch dann waren doch noch zwei weitere Bücher „in ihm“ bevor er nun, Ende vergangenen Jahres, seine Autobiographie vorlegte.
Er schildert darin seine Kindheit in Washington in einer Familie jüdischer Einwanderer, die von Armut, Arbeit, Freudlosigkeit und eigener Bildungsferne geprägt war, für den kleinen Irvin allerdings auch von dem unbedingten Willen nach Lesen, Lernen und Welt verstehen. Seinen Kampf durch die Institutionen und den dort zu dieser Zeit wie selbstverständlich herrschenden Antisemitismus. Seine Karriere als Neurologe, Psychotherapeut, Wissenschaftler, Philosoph, Lehrer, Familienvater und Schriftsteller. Und wie auch in seinem therapeutischen Ansatz und seinen zahlreichen Büchern, gibt Yalom auch hier, am Ende seines Lebens in der Rückbetrachtung, sehr viel von sich, seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seinen Zweifeln preis.
Zahlreiche Parallelen zu den Erinnerungen von Oliver Sacks tun sich auf.  Auch Yalom setzt sich im ersten Drittel seines Buches ausführlich mit seiner Familie, vor allem seiner Mutter und seiner Beziehung zu ihr, auseinander.
Yalom beeindruckte als Student bei einer Prüfung, nicht, weil er die Fakten beherrschte und die Fragen beantwortete, sondern weil er einen Fall wie eine spannende Geschichte schilderte und alle Anwesenden damit fesselte. Sacks gewann das Preisgeld für die Anschaffung seines Oxford English Dictionary für einen anatomischen Essay, obwohl er bei der Anatomie-Prüfung an der Universität gerade ein grandios schlechtes Ergebnis abgeliefert hatte.
So wie uns Sacks quasi wissenschaftsgeschichtlich durch die Neurologie und Psychiatrie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt, tut Yalom dies für die Psychotherapie. Er leitet den Leser über Sigmund Freud – „Wille zum Trieb“ und Alfred Adler – „Wille zur Macht“ zu Viktor E. Frankl – „Wille zum Sinn“ und er tut eines, seit damals bis heute: er bringt Patienten wie Therapeuten und Leser nahe an den empathischen Spalt. Entgegen vieler anderer Glaubenssätze vom maximalen emotionalen Abstand und kompletter Selbstzurücknahme des Therapeuten gegenüber seinem Klienten hält er auch hier wieder ein warmes Plädoyer für ein seelisches Mitschwingen und eine Öffnung des Behandlers gegenüber dem ihm anvertrauten Leid. Dies vor allem im Angesicht der existenziellen Fragen von Freiheit und Verantwortung, Sinnhaftigkeit, Krankheit und Tod. Er schlägt den methodischen Bogen von der damals klassischen Psychoanalyse über die „Erfindung der Gruppentherapie“ bis hin zu Therapieversuchen per SMS oder Videokonferenz.
Dies schildert Yalom jedoch wie immer mit geübter Feder, ernsthaft aber ohne allzu niederdrückende Schwere. Dazu hilft manche Anekdote über die Zufälligkeiten des Lebens und auch hier das Kaleidoskop des Who-is-Who der Wissenschaft und Kunst, die ab einem bestimmten Zeitpunkt mit großer Selbstverständlichkeit in diesem Alltag stattfinden.
Doch neben allen aufschlussreichen Analogien und Differenzen dieser beiden fesselnden Lebensberichte bleibt nach der Lektüre ein subjektiver Beigeschmack: der eine scheint zu behandeln und zu forschen, um darüber zu schreiben; der andere behandelt und forscht und entscheidet erst im Nachgang über eine mögliche „literarische Verwertung“.

„Schrift ist Gift.“ Dies ist einer der Leitsätze im Mahlstrom des bundesdeutschen Justizsystems, in den dieses Buch den Leser mitnimmt oder besser: einsaugt. Denn: einmal aufgeschrieben, manifestiert sich die Causa in der (Gerichts-) Welt und ist durch nichts mehr zurückzuholen. Auf gut 450 Seiten beschreibt Petra Morsbach akribisch in dem Ende vergangenen Jahres erschienenen, hoch akklamierten Roman „Justizpalast“, mal chronologisch, mal in Rückblenden, Arbeit und Leben der Richterin Thirza Zorniger. In dieser Reihenfolge.
Nomen est omen: „Thirza“ „die Anmutige, die Wonne, die Lieblichkeit“ Zorniger. Komparativ. Was für ein Gegensatz! Das Ergebnis einer unglücklichen Verbindung zwischen dem extrovertierten und selbstverliebten Schauspieler Carlos Zorniger und seiner Frau Gudrun, die, verlassen vom Gatten und allem Optimismus, früh stirbt. Die kleine Thirza wächst beim Großvater und dessen Schwestern auf. „Schon Thirzas Mutter wäre gerne Richterin geworden.“ Das wurde sie nie, erst kam der Mann, dann die Krankheit. Aber Thirza, die kleine tapfere Ritterin, anstelle der Mutter, ist eisern, beißt sich, dem Großvater und sich selbst zum Trotz und Beweis, durch  und stürzt sich in das juristische Hamsterrad. Schon früh konstatiert sie auf die Bemerkung eines Kollegen hin: „Es gibt Schlimmeres, als Durchlauferhitzer im Justizpalast zu sein.“
Und so öffnet die Autorin dem Leser nicht nur die Gedanken der Richterin Zorniger auf ihrem Weg von Karrierestufe zu Karrierestufe bis zur Kammervorsitzenden sondern auch in die Welt derer, die vor Gericht entweder ihr Recht oder sogar Gerechtigkeit suchen. Morsbach selbst sagt in einem Interview: „Nur unglückliche Menschen ziehen vor Gericht.“ Und davon gibt es in den Gerichtssälen der Republik und auch in diesem Buch wahrlich ausreichend. Weit mehr als 100 Fälle skizziert sie, bettet sie ein in das Leben der Protagonistin. Oder auch andersherum? Neben den dienstlichen und privaten Begebenheiten, die ein ums andere Mal ineinander verschwimmen, paradiert das in Sprache (vor allem) und Stil rechtswissenschaftlich gestählte Personal durch die Szenerie: Richter, Anwälte, Staatsanwälte, Kläger, Beklagte, Referendare, ……….. A propos: ein solcher ist einer der wenigen, der das ausspricht, was sich der Leser sicherlich während der Lektüre deutlich mehr als einmal denkt: „Haben Sie bei solchen Figuren noch nie gedacht: Verpiss dich! Warum fickst du dich nicht selber?“ „Mal ehrlich“, gab Thirza zurück, „haben Sie sich schon mal Gedanken über die Rolle des Richters im Zivilprozess gemacht?“ Der das sagt, ist (sic!), der Referendar Pfeiffer mit drei „f“; die spröde Replik der Frau Richterin hingegen lässt das Humorzentrum unbefriedigt. Die „Pfeiffer’sche Formel“ wird im weiteren Verlaufe immer noch einmal bemüht werden, der Rest bleibt „Aktenkauerei“. In der wir Nicht-Juristen lernen, was eine Schiebeverfügung oder ein U-Boot ist:: „Sie las das schreckliche Kürzel z.e.A.: zur erneuten Anwendung. Es bedeutete, wie befürchtet, einen Rückverweis. … …. war ein zwölf Jahre alter gänzlich verdorbener Uralt-Fall, ein justizintern so genanntes U-Boot.“ Und davon gibt es reichlich im System. Es geht um Familienrecht, Kartellrecht, Markenschutz, alle Spielarten des Zivilrechts – nicht um Mord oder Totschlag. Und gerade da eröffnet sich dem juristischen Laien das Innenleben dieser Kaste derer, die als „Stützen des Systems“ selbiges zwar in vielerlei Hinsicht wortreich verfluchen, letztendlich aber mit ihrem Tun und Lassen die aufrechterhaltenden Bedingungen für dessen Fortbestehen schaffen.
Auch wenn die geschilderten Fälle, bis in die Gegenwart hinein, spannend und sogar poltisch-bayrisch-bundesdeutsch brisant bleiben und das Leben der Thirza Zorniger hinter den Akten manches Mal nicht ohne Höhe- und Tiefpunkte ist, bleibt die Richterin merkwürdig blass und unplastisch, blasser als manch andere Figur, die neben ihr erscheint. Alle rechtsphilosophischen und literarischen Exkurse sind ohne sichtlich erbebende Wirkung auf Szenen, Situationen, Figuren. Die Distanz zwischen Morsbach und ihrer Protagonistin, der Abstand der Dokumentarin, bleibt spürbar. Die Autorin, Jahrgang 1968, war zehn Jahre als Dramaturgin und Regisseurin tätig. Die Vermutung liegt nahe, dass daher der fast szenische Schreibstil rührt, der Fälle und persönliche Schicksale miteinander verwebt. Und doch ist am Ende ein kleiner Wermutstropfen in das Lob zu träufeln: nach neun Jahren Recherche fehlte vielleicht der Blick für das richtige Maß, das rechtzeitige Finale, bevor der Leser der Konstruktion überdrüssig wird.

Haben Sie in der vergangenen Woche zufällig die Wiederholung einer alten Folge der Krimi-Serie „Ein starkes Team“ gesehen? Der schrullige Dr. Kneissler, der dort als Gerichtsmediziner tätig ist, und so die Ermittler mit den nötigen Informationen versorgt, damit wir gegen 21.45 Uhr auch wirklich den Täter gefunden haben – das ist Robert Seethaler. Der Autor überaus erfolgreicher Bücher wie „Jetzt wird’s ernst“ (2010) oder „Ein ganzes Leben“ (2016) ist ebenfalls preisgekrönter Drehbuchschreiber und  Schauspieler, der auch vor  Nebenrollen in der „SOKO Donau“ oder der oben genannten nicht zurückschreckt.
Robert Seethaler wuchs in Wien auf, besuchte die Schauspielschule und lebt heute dort und in Berlin. Zurzeit ist sein neuester Titel „Das Feld“ in aller Munde; hier soll es aber um den Roman (der sowohl vom Umfang als auch der Stilistik auch als Erzählung eingeordnet werden könnte) „Der Trafikant“ gehen. Als äußerer Anlass kann der im Herbst anstehende Kino-Start der Verfilmung mit so prominenter Besetzung wie Bruno Ganz, Karoline Eichhorn etc. dienen
Das Buch erschien bereits 2012 und erzählt die Geschichte des jungen Franz Huchel, der Ende des Jahres 1937 aus dem idyllischen Nußdorf am Attersee im Salzkammergut von seiner Mutter nach Wien geschickt wird, um in der Tabak-Trafik des Otto Trsnjek künftig seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Trafikant  hat im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren, sitzt tagein tagaus über der Buchhaltung und betrachtet die Trafik samt Kundschaft als seine erweiterte Familie. In den folgenden Monaten schlüpft Franz aus seiner kindlichen Unbedarftheit wie ein Küken aus dem Ei und macht die Bekanntschaft mit dem Zeitungswesen und den Rauchwaren, der Liebe und dem Sex, der Psychoanalyse und der Politik.  
Otto Trsnjek führt ihn nach und nach in die Geheimnisse der Trafik ein; dort trifft er auch zum ersten Mal Professor Sigmund Freud, der dort „wie immer“ seine Virginia- Zigarren und die Zeitung kauft.
„Das war der Professor Sigmund Freud“, sagte Otto Trsnjek und ließ sich mit einem Ächzen zurück in seinen Sessel sinken. „Der Deppendoktor?“, entfuhr es Franz mit einem kleinen Erschrecken in der Stimme. Natürlich hatte er schon von Sigmund Freud gehört. Der Ruf des Professors war ja mittlerweile nicht nur an die entlegensten Flecken der Erde, sondern sogar bis ins Salzkammergut gelangt und hatte dort die meist dumpfen Fantasien der Einheimischen angeregt.
In der Folge entwickelt sich eine stille Freundschaft zwischen dem Professor und Franz, denn der Junge hat Fragen. Zum Leben und vor allen Dingen zur Liebe, also eigentlich: zu den Frauen. Im Prater hat Franz Anezka kennengelernt. Eine junge Böhmin, die weitaus weniger reinen Gedankens ist als er, die sich mit allen Mitteln durchs Leben schlägt und für die er bis zum Ende nur der „Burschi“ bleibt. Doch Freud, diesem Zeitpunkt schon über 80 Jahre alt und hochverehrt, sagt nur, er verstehe die Frauen auch nicht. „Die richtige Frau zu finden, ist ein der schwierigsten Aufgaben in unserer Zivilisation“ und auch ansonsten bleiben seine Ratschläge eher pragmatisch. Er gibt Franz zwar den Rat, sich Zettel und Stift neben das Bett zu legen, um seine Träume aufzuschreiben, aber weder Freuds großes Werk „Die Traumdeutung“ wird erwähnt, noch widmet er sich Franz‘ Träumen. Die Familie Freud bereitet in diesen Tagen ihre Flucht aus Wien nach England vor, die Ereignisse des Jahres 1938 werfen schon lange ihre Schatten voraus.
Der Trafikant Otto Trsnjek verteidigt derweil standhaft die Österreichische Republik gegen Nazis, Gestapo und dumpfe Mitläufer und wird folgerichtig als „Judenfreund“ von den schwarzen Uniformen abgeholt. Nun ist Franz der Trafikant und der Junge verliert binnen weniger Monate zwischen Zeitungslektüre und echtem Leben in mehr als einer Hinsicht seine Unschuld.
Im November 2012 erschien eine Rezension zum Buch in der FAZ, in der der Autor Andreas Platthaus schreibt:      
Seethalers Protagonist ist ein reiner Tor und möchte es bleiben: „Wer nichts weiß, hat keine Sorgen“, dachte Franz, „aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen.“ …
Am Ende wird der Tor wissend geworden sein, und doch versperrt er, als ihn die Schergen abholen, die Tür zur Trafik:   „Weil wer weiß schon, was sein wird?“
Seethalers Text fließt vermeintlich leicht  und ohne dramatischen Überschwang, fast distanziert, dahin, ist aber dicht und komplex. Der Leser durchlebt die Geschichte bis auf zum Ende hauptsächlich aus der Perspektive des Jungen, nur ab und zu schaltet sich der Erzähler ein. Alle Nebenfiguren sind fein gezeichnet und haben eine klare Funktion. Der Autor nutzt die Klaviatur der uns vertrauten Symbolik – Natur, Milieus, Gerüche. Die Sprache ist durchfärbt vom österreichischen Wortschatz und Satzbau, Schwelgerisches wird scharf kontrastiert durch die kargen und teilweise antiquiert wirkenden Sätze, die Franz der Mutter ins Salzkammergut auf seinen wöchentlichen Postkarten schreibt.
Eine besondere Erwähnung ist an dieser Stelle das Hörbuch, das als ungekürzte Autorenlesung erschienen ist. Als ausgebildeter Schauspieler ist Seethaler ein hervorragender Vorleser und der wienerischen Klangfarbe folgend ist der Zuhörer schon nach wenigen Minuten gedanklich zwischen Prater und Berggasse unterwegs.

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.

F31. – Bipolare affektive Störung

Hierbei handelt es sich um eine Störung, die durch wenigstens zwei Episoden charakterisiert ist, in denen Stimmung und Aktivitätsniveau des Betroffenen deutlich gestört sind. Diese Störung besteht einmal in gehobener Stimmung, vermehrtem Antrieb und Aktivität (Hypomanie oder Manie), dann wieder in einer Stimmungssenkung und vermindertem Antrieb und Aktivität (Depression). Wiederholte hypomanische oder manische Episoden sind ebenfalls als bipolar zu klassifizieren.
„Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten.“ So beginnt das aktuelle Buch von Thomas Melle, Jahrgang 1975, geboren in Bonn, im „Hariboghetto“, wie er es selbst nennt. Nach einem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften und der Philosophie in Berlin und den USA arbeitet er als Autor und Übersetzer. Für seine Werke, Prosa, Dramatik und Übersetzungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Dem breiteren Publikum bekannt sind u. a. die Romane „Sickster“ und „3000 Euro“.
Der Verlust, über den der Autor zu Beginn des Textes berichtet, ist erst einmal der seiner Bibliothek, die er in der Raserei der ersten manischen Episode seiner bipolaren Erkrankung verkauft, und der zum Symbol des Verlustes seiner materiellen Existenz, seines ganzen Lebens wird. Bipolar I – das ist die ganz heftige Nummer. 1999 beginnt bei Melle die auslaugende und zerstörerische Achterbahnfahrt zwischen manischen und depressiven Episoden mit einer ersten Manie. „Dann kocht der Gehirnstoffwechsel über und der Mensch rastet aus.“
„Als ich Sex mit Madonna hatte, ging es mir kurz gut. (…) Sie hatte ihr Leben lang über mich gesungen. Wie auch Björk.“ In weiteren Episoden begegnet er Pablo Picasso und Hans Magnus Enzensberger, verkleidet als Frau im Nachbarabteil eines Zuges, oder er ist der Überzeugung, dass alle Leute über ihn unter dem Pseudonym des bayrischen Profifußballers Thomas Müller sprechen. Die Intentionalität der gesamten Welt ist auf ihn gerichtet. „Bei mir selbst fand eine Inversion statt: Was ich bisher geliebt hatte, zerstörte ich. Die Nächsten wurden dabei zu den Fernsten; die Fernsten zu den Nächsten. Während enge Freunde und Partner plötzlich wie infame Verräter wirkten, gab es Distanzprojektionen, die ich vornahm, die mich bedrängten – gern in Form von Büchern, Songs, Filmen, Artikeln.“
In der Manie pulverisiert Melle sein Konto, seine Wohnungen, sein Hab und Gut und nach und nach alle seine Beziehungen, sexuelle und freundschaftliche gleichermaßen; das monatelange Marodieren auf höchstem Erregungslevel, der Missbrauch von Substanzen, im Falle des Autors vor allem Alkohol, zerrüttet die Physis. Er wird zu dem, was er bei einem seiner ersten Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik noch abfällig-distanziert für eine Gruppe von „Mit-Patienten“ formuliert: Auch er wird ein Drehtür-Patient, je nach Verfasstheit und Energiepegel – rein, raus, rein, raus … „So verglühten die Nächte, Tage und Wochen. (…) Außen war Psychofasching, innen wütende Geschichtsparanoia und semantischer Wahn, die sich unzertrümmerbar verfestigt hatten.“
Und irgendwann kommt der Umschwung in jeder Manie, als ob ein bösartiger „Junger Mann zum Mitfahren“ unten am Schaltpult der Schiffsschaukel auf der großen Kirmes, an deren höchstem Punkt den Umkehrschub mit voller Wucht reingehauen hat und die Fahrgäste in der obersten Schaukel mit aller Wucht und Härte den Sicherheitsbügel in die Mägen gerammt bekommen: die Depression, über die es sich gar nicht so anekdotisch schreiben lässt wie im Nachgang über die Eskapaden, den Größenwahnsinn und die Allmachtsphantasien der Manie. „Die Überfeuerung der Neuronen hörte auf und schlug in ihr Gegenteil um. Die vorher überzähligen Botenstoffe im Kopf machten sich rar und erstarrten. Das Hirn fuhr herunter, die Seele verfinsterte sich und wurde plötzlich von einer allumfassenden Trauer zersetzt.“
In dieser Achterbahn ging es für Melle in den vergangenen gut 15 Jahren mehrfach bis zur vollständigen seelischen und körperlichen Erschöpfung auf und ab. „Und jetzt ist der Bipolare der Entfremdete schlechthin.“ Er findet sich im Raster der Dreifaltigkeit der Bipolarität: Me, Myself and I – der Manische, der Depressive und der „zwischenzeitlich Geheilte“.
„Die Welt im Rücken“ erschien im vergangenen Jahr pünktlich vor dem unausweichlichen Lauf über den literarischen Catwalk des Deutschen Buchpreises und das Feuilleton, das Gedruckte und das Gesendete, stürzte sich gleichermaßen gierig auf den Titel. Lang und breit wurde die Symptomatik der Krankheit diskutiert, gern aber auch, nach der Erhebung in den Bücherhimmel erst durch die Aufnahme auf die Long-, dann auf die Shortlist des Buchpreises, die Frage: Ob denn dieser Text wohl literarisch genug sei, um den Kriterien des Regelwerkes zu genügen? Oder kategorisch als schlichte Autobiographie zu behandeln sei? Der Autor gibt seine Antwort im Text: „Die Fiktion muss pausieren (und wirkt hinterrücks natürlich fort). Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern.“
Die Antwort für den Leser, dem diese Diskussion von Jury und interessierter Öffentlichkeit gepflegt den Buckel runterrutschen kann: Es ist nicht wichtig! Entscheidend ist, dass der Text den Leser aus dem Buch heraus förmlich anspringt, bewaffnet mit konsequenter Lakonie wie mit einem nassen Handtuch und ohne jede Larmoyanz. Der Autor stemmt sich mit Brutalität gegen die Tür, hinter der das (Selbst-)Mitleid lauern könnte und gibt auf gut 300 Seiten keinen Fußbreit nach. Mit dieser Schreibhaltung erschöpft Melle sicherlich die empathischen Ressourcen etlicher Leser. Vom mühsam eroberten Hochsitz der Selbstdistanz konstatiert er kühl: „Meine Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist meine Krankheit meine Heimat.“ Da möchte man diesem erschöpften Selbst (Alain Ehrenberg: „Das erschöpfte Selbst“) den Kern der philosophischen und psychologischen Grundsätze Viktor E. Frankls, dem Begründer der Logotherapie, mit auf den Weg geben: „Die Seele kann erkranken, aber der Geist nicht“. Was mit diesem Buch ein gutes Stück weit bewiesen wäre.

Eine Überdosis Liebe. Einsam, Zweisam, Dreisam. Das Herz ist eine miese Gegend. Spatz in der Hand. Der Himmel fängt über dem Boden an. Der langsame Tanz. Andrea und Marie. Das Aquarium. Die gefährliche Frau. Singvogel. Eine kurze Geschichte vom Glück. Aprilwetter. Fallers große Liebe. Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin. Vier Arten, die Liebe zu vergessen. Die kurzen und die langen Jahre. Weißer Zug nach Süden. Seltene Affären. Das innere Ausland.

Thommie Bayer ist ein äußerst produktiver künstlerischer Tausendsassa – Autor, Maler, Drehbuchschreiber, Musiker, Journalist. Geboren 1953 im Schwäbischen. Wenn Sie sich der Person nähern möchten, klicken Sie hier: http://www.thommie-bayer.de/guterrat.htm und ich verspreche, das ist nicht der Link zu seinem Lebenslauf auf der Homepage.

„Und wie wär’s, wenn Sie Rezensionen schrieben? Ihre Kenntnis und Belesenheit schreit eigentlich nach Verbreitung, oder?“„Nein. Das ist eine andere Welt. Ich habe das mal in kleinem Rahmen gemacht, aber ich konnten nur Bücher empfehlen und erklären, warum ich sie schätze, ich konnte sie nicht verdammen, ihre Fehler aufzählen, den Lesern einreden, sie sollen dieses Buch nicht lesen. Die Richterposition gefällt mir nicht. Sie hat etwas Hoffärtiges, Rigides, ich finde sogar, sie hat etwas Literaturfeindliches.“„Schon wieder so ein tolles Wort: hoffärtig“, sagte er. „Aber es braucht doch die Kritiker. Jemand muss doch ein sicheres fachliches Urteil haben.“„Diese fachliche Sicherheit gibt es ja nicht. Es gibt Zuneigung und Abneigung, und die Kriterien sind so weich, dass sie für beides herhalten können.“„Wofür studieren die Leute dann, wenn sie keine sicheren Kriterien erwerben?“„Im Studium lernt man das Einordnen. Das ist was für Bibliothekare.“

Warum gerade über dieses Buch? Vor acht Jahren erschienen. Um ehrlich zu sein: Zufall. Jemand schenkte es mir. Mit einem persönlichen Impetus natürlich. Aber davon abgesehen: einfach ein unbedingt lesenswertes Buch. Auch streitbar.

Alexander Storz ist Antiquar. Er betreibt mehr schlecht als recht einen kleinen Laden in Köln. Das Leben plätschert so dahin, droht zu verplätschern. Eines Tages spricht ihn ein älterer, offensichtlich gut situierter Herr an. Ob er ihm seine private Bibliothek abkaufen würde. Diese „Bibliothek“ entpuppt sich bei Inaugenscheinnahme als eine wahre Schatzkammer der wertvollsten Bände und übersteigt das finanzielle Leistungsvermögen Alexanders deutlich.

Als er ablehnt, macht Faller (kein Vorname) ihm ein anderes Angebot: ob er ihn auf einer Reise begleiten wolle. Er selbst habe seinen Führerschein verloren, aber wichtige Dinge vor Ort zu erledigen und brauche nun einen Fahrer, Begleiter, Gesellschafter, wie auch immer man das nennen wolle. Es beginnt eine Reise quer durch Deutschland, von Norden nach Süden, während der die beiden Männer reden und schweigen, (gut) essen und trinken, sich näher kommen (vermeintlich?!?) und wieder Distanz zwischen sich schaffen.

Während der Plot mit jeder neuen Stadt Haken schlägt wie ein Feldhase, schält sich der Leser nach dem Zwiebelprinzip durch die Augen und Gedankenwelt Alexanders in das Innerste Fallers, in dem zwangsläufig am Ende einer der letzten Fragen thematisiert wird.

Und parallel zu diesem Handlungsstrang, über den hier aus Spannungs-Fairness-Gründen nicht mehr so viel erzählt werden soll (was diesen Text auch ziemlich kurz macht), entwickelt sich ein Buch über Bücher. Alexander verbringt die Tage in der Regel lesend allein, während Faller seinen Geschäften nachgeht. Er erkundet die fremden Städte, indem er Buchhandlungen aufsucht, den Empfehlungen der Buchhändlerinnen folgt, in den gekauften Büchern versinkt, eigenes Erleben erinnert. Ein Kurs für Fortgeschrittene in Bibliotherapie.

Kritiker mögen sagen: zu konstruiert, zu vorhersehbar, manchmal schrill kratzend an der verschiebbaren Grenze zum Kitsch. Wir aber sagen (siehe Zitat): es ist ein berührendes und somit gutes Buch, denn: „(wir) können Bücher nur empfehlen und erklären, warum (wir) sie schätzen.“

„Menschenwürde, dachte er, man hat doch Menschenwürde, 
die darf man sich nicht nehmen lassen.“ Otto Silbermann


Wir kennen das: schon wieder ein Buch über das Dritte Reich, der Nationalsozialismus schon wieder Thema im Geschichtsunterricht der Kinder, das städtische Theater spielt George Tabori „Mein Kampf“, bei 3 SAT ist Thementag „Zweiter Weltkrieg“ und irgendwo hinten in unserem Kopf kreisen leise aber beharrlich summend die Sätze: „Reicht das jetzt nicht mal langsam auch, ist denn zu diesem Thema nicht schon alles erforscht, gesagt und gedacht? Muss das schon wieder sein?“
Dass dem auf gar keinen Fall so ist, zeigen in diesem Frühjahr der Roman „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger und die preisgekrönte Erzählung „Die Tagesordnung“ von Eric Vuillard – jeder Text auf seine Weise.
Und ein dritter Titel gesellt sich dazu, der eine besondere Qualität hat, nicht aus dem „Draußen und Danach der Heutigen“ auf die Katastrophe guckt sondern einer, der zwar literarisch gefiltert, aber doch authentisch, in Echtzeit, vom Anrollen der Vernichtungsmaschine der Nazis im November 1938 erzählt.
Der Kritiker der Tageszeitung DIE WELT schrieb dazu im März 2018: „Vor diesem Buch muss man warnen. Man braucht starke Nerven dafür. … (Bei) „Der Reisende“ handelt es sich um das erschütterndste zeitgenössische belletristische Zeugnis, das wir über die Lebenswirklichkeit eines verfolgten Juden in jener Zeit besitzen.“
Ulrich Alexander Boschwitz, Jahrgang 1915, Heimatstadt Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter nach Skandinavien, studierte später an der Pariser Sorbonne. Schon in dieser Zeit erschienen erste literarische Werke. „Der Reisende“ entstand 1939 in England und wurde auch in den USA und in Frankreich veröffentlicht.
Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als „feindlicher Ausländer“ interniert und nach Australien gebracht. Auf der Rückreise von dort nach Europa, er hatte sich als Soldat zum Kampf gegen die deutsche Armee gemeldet, wurde das Schiff, die Abosso (II), von dem deutschen U Boot U 575 torpediert und ging circa 1000 km nordwestlich der Azoren unter. Boschwitz starb mit 27 Jahren.
Der Herausgeber Peter Graf wurde auf das Typoskript aufmerksam gemacht, das im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main aufbewahrt wird. Da Boschwitz selbst in Briefen an seine Mutter geschrieben hatte, dass das Manuskript der Überarbeitung bedürfe, trat Graf fast 80 Jahre später an dessen Stelle und machte nach der behutsamen Lektorierung das wieder zum Leben erweckte Werk der Öffentlichkeit zugänglich. 
Der wohlhabende jüdische Kaufmann Otto Silbermann kann es nicht glauben und will es nicht wahr haben. Im November 1938 marodieren Schlägertrupps durch Berlin, plündern, prügeln, verschleppen jüdische Bürger. Er, dem immer mal attestiert wird, er sähe so arisch aus und der mit einer Arierin verheiratet ist, wähnt sich in Sicherheit – der Spuk geht vorbei, da ist er ganz sicher.
Doch es kommt anders. Erzählt im unerbittlichen Rhythmus von Demütigung und Verunsicherung verliert Silbermann seine Firma, seine Frau, seine Wohnung, seine Zukunft. Seinem Geschäftspartner (dem er die Firma überschrieben hat), Kamerad aus Weltkriegstagen, jagt er, gepeinigt von Misstrauen und inneren Schreckensvorstellungen, von Berlin nach Hamburg nach und unverrichteter Dinge wieder retour. So beginnt sein Leben in der Reichsbahn.
 „Berlin – Hamburg, dachte er. 
Hamburg – Berlin
Dortmund – Aachen
Aachen – Dortmund
…
Ich bin überhaupt schon ausgewandert.
Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert.
In bin nicht mehr in Deutschland. 
Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied. Wieder hörte er auf das Stoßen der Räder, die Musik des Reisens.“
Er versucht, mit Hilfe eines Schleppers nach Belgien zu fliehen, um von dort weiter nach Paris zu reisen, wo der Sohn studiert und versucht, Papiere für seine Eltern zu ergattern – viel zu spät. An der Grenze wird er erwischt.
„Wenn du dich noch einmal blicken lässt ….“, knurrte der Gendarm. Da drehte sich Silbermann um, durchquerte den Wald und stolperte über eine Wurzel wieder hinein in das Deutsche Reich.“
Er fährt zur Familie seiner Frau in Richtung Osten, doch der Schwager würgt ihn noch am Bahnhofstelefon ab. Er wolle doch nicht die eigene Ehefrau und auch die ganze Familie durch seine Anwesenheit gefährden? Also zurück nach Berlin, das Coupé inzwischen schützende Heimat. Er verliebt sich „auf der Bahn“ und er trifft alte Bekannte in Berlin, alle wie er, auf der Flucht. Doch er ist im Vorteil, noch hat er Bargeld, viel.
Als ihn Hamburger wieder auftauchen sah, rief er ihm über viele Köpfe zu. „Sehen Sie doch mal bitte nach, Silbermann, ob Sie nicht irgendwo eine Zeitung finden.“ Silbermann reagierte nicht auf diesen Zuruf. Mit verkniffenem Mund trat er an den Tisch heran und setzte sich. …  „Sie kompromittieren mich ja“, stieß Silbermann gereizt und verdrossen hervor. Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Ausdruck des Behagens, …. Dann stand er wortlos auf, nahm von dem neben ihm stehenden Stuhl Hut und Mantel und kleidete sich an. …Silbermann blickte ihm nach. … Dafür, dass ich selbst ein empfindlicher Mensch bin, bin ich brutal genug. Man bleibt sitzen, man sieht ihn gehen und ist trotz allem auch noch froh, ihn los zu sein.
Opfer ist er also und Täter, ein ganz normaler Mensch, der zum Schluss alles verliert und auf der Flucht vor den Häschern unaufhaltsam in den Wahnsinn gleitet.

Die Ankündigungen versprachen einen Wenderoman, machten die Reihe auf: Uwe Tellkamp – Egon Ruge – Lutz Seiler, „Der Turm“ – „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ – „Kruso“. Kollege Seiler akklamiert den Text sogar auf dem Buchrücken als „das Kunststück, die Turbulenzen und Kapriolen des Nachwendejahres 1990 in einer radikalen, zärtlichen Liebesgeschichte zu erzählen“.
Der Rostocker Leser erkennt in der Vita des Autors vage Parallelen mit der Walter Kempowskis. Und auch im Subtext dieses Buches wird der stetig der Heimatbegriff verhandelt. Schacht, Jahrgang 1951, wuchs in Wismar auf, studierte in Rostock und Erfurt evangelische Theologie. Wegen „staatsfeindlicher Hetze“ wurde er zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt und drei Jahre später von der Bundesrepublik freigekauft. Er arbeitete in der Bundesrepublik als Journalist für zahlreiche renommierte Blätter sowie als freier Schriftsteller und lebt nunmehr seit vielen Jahren in Schweden. 2015 erschien die viel beachtete Novelle „Grimsey“, für die er unter anderem den Preis der LiteraTour Nord erhielt.
Deutlich autobiografisch geprägt ist der hier vorgelegte Roman. Torben Berg, 39 Jahre alt, ausgestattet mit der Vergangenheit des Autors, fährt im Herbst 1989 in die implodierende DDR, in die Heldenstadt Leipzig. In einem Klub, ganz offensichtlich der stadtbekannten Moritzbastei, lernt er an einem der ersten Abende wenige Wochen nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze auf der Suche nach Stimmungen und Lokalkolorit für seine Berichterstattung die Studentin Henrike Stein, kurz Rike genannt, kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich nicht weniger als eine amour fou, die nicht bestehen kann, trotz aller Bemühungen. Berg schneidet seinem geduldigen Chefredakteur Dienstreisen nach Leipzig aus dem Kreuz, trennt sich von seiner Frau, verlässt somit auch ein Stück weit seine Tochter. „Furchtbar, sagte Berg, nichts ist entschieden. Ich weiß nicht, was ich machen soll, es ist ein wahnsinniges Auf und Ab. Rike ist die Liebe meines Lebens, aber ich wie, dass ich nicht mir ihr leben kann, zusammenleben, meine ich, ein Leben lang! Ich könnte es zwar, sie kann es nicht.“
Immer wieder nimmt Schacht den Leser mit in die Brocken seiner Erinnerung, nach Parchim, Schwerin und Wismar, an verschiedene Orte an der Ostseeküste, wo in der direkten Nachwendezeit das Leben seines Protagonisten verfilmt wird. Enger und enger verweben sich verschiedene Zeit- und Raumebenen, historische Rekapitulation und intimes Liebeserleben  im Text. Reisen quer durch Europa, nach Paris, England, Schottland, auf die Färöer, mit und ohne Rike bestimmen das Bild. Auf einer Reise nach Nordengland trifft Berg den Gewandhauskapellmeister, der dort mit dem großen Leipziger Orchester auf Tournee ist. Nach Paris fährt er erst in Begleitung der Tochter, dann der Geliebten, zum Schluss allein.
Einer der absurden Höhepunkte ist die Schilderung der Nacht der Wiedervereinigung, die Berg, seine Frau und Tochter sowie einige Freunde mit einer Vielzahl weiterer Gäste auf Einladung des Kulturministers „des Staates, den es in einer knappen Stunde nicht mehr geben würde“ in eben diesem Ministerium verbringen. Der Minister ehrt die Künstler, die der „für immer verschwindende Staat verfolgt, drangsaliert oder anderweitig daran gehindert“ habe, „ihre Kunst frei ausüben zu können“, indem er ihnen einen Orden verleiht. „Der Beifall danach war stark, das Durcheinanderreden und das Lachen nicht geringer, und doch lag einen Moment lang etwas zutiefst Atemstockendes in der rauchgeschwängerten Luft, eine Erstarrung, blitzkurz nur, sie ließ die ganze Szene zu einem ungeheuren Bild gerinnen, als ob Dalí den Pinsel geführt hätte. Keine Viertelstunde später waren auch …. und Berg Kunstpreisträger des gerade untergehenden Staates, ….“
Je enger die beiden Staaten im Verlaufe der Handlung zusammenwachsen, desto mehr entfernen sich die beiden Individuen voneinander. Ulrich Schacht ist ein Architekt der Sprache und Literatur; er konstruiert kunstvoll und gewaltig (eben kathedralenartig!) große Handlungsbögen und leise und fein wie eine Klöppelarbeit dichte Sätze. Aber – eine Wenderoman?!?